Gefügig, fleißig, demütig sollen rumänische Frauen sein, wenn sie Erfolg haben wollen. Vor allem aber: hübsch anzusehen – damit Männer sie zum Anbeißen finden. Rumänien ist in Sachen Gleichberechtigung europäisches Schlusslicht. Und das, obwohl die Rumäninnen im Kommunismus selbstverständlich als Traktoristin oder Kernphysikerin Karriere gemacht haben. Heute verdienen sie damit weniger Geld als die Männer, haben keinerlei Karrierechancen.
Kein Wunder, dass qualifizierte, emanzipierte Rumäninnen ihrem Land den Rücken kehren und im Goldenen Westen eine bessere Zukunft suchen. Ausgerechnet über einen deutschen Partner.
Kamera: Patrick Meyer-Clement Schnitt: David Holfelder Produktion/Redaktion: Alpha Container / WDR
Essen, das um die halbe Welt reist, ist ökologisch betrachtet eine Katastrophe. Deswegen probiert Anni Dunkelmann mal nur das zu essen, was jetzt gerade in Berlin und Brandenburg wächst. Dafür schaut sie den Köchen in einem Sterne-Restaurant in die Töpfe, treibt bei Schneeregen Schweine ein, gräbt Felder um, fängt Fisch – und muss sich entscheiden, ob sie ihn mit bloßen Händen töten kann. Anni Dunkelmann – brutal lokal.
„Ils n’ont rien fait, ils n’ont rien fait, ils n’ont rien fait.“ Sie haben nichts gemacht. Zum letzten Mal wiederholt Amini Kabaaka Shemu diesen Satz. Dann Abspann.
Im „Kongo Tribunal“ führt Amini Kabaaka Milo Rau zu den Leichen im Dorf Mutarule. 35 Menschen sind hier gerade massakriert worden, auch Babys, sogar ein ungeborenes.
Das angegriffene Dorf ruft bei der 9 Kilometer entfernten Niederlassung der UNO um Hilfe. Die UNO tut nichts. Sie habe erst zwei Wochen zuvor einen Konfliktlösungs-Workshop in dem Dorf abgehalten, rechtfertigt sich die MONUCSO-Verantwortliche.
Am Ende des Films landen die Toten des Massakers in LKW-Planen gehüllt in einem Massengrab. Bernard Kalune Buleri, 57, bebt, wenn er an diese Szene denkt. Der Theaterschauspieler, Musiker und Schriftsteller hat selbst mal zwei Jahre für die UNO-Mission im Kongo gearbeitet.
Letzte Vorstellung
Die letzte Film-Debatte in Goma, Hauptstadt von Nord-Kivu, endet mit Hoffnung. Auch hier scheinen die Zuschauer neuen Mut zu fassen, als Staatsbürger einer Demokratie doch etwas verändern zu können. Zumindest konnten sie mal erzählen, zuhören, diskutieren. Das verleiht Tatendrang.
Wieder öffnet der Film die Schleusen. Als die Diskussion irgendwann zu Ende gehen muss, drängen sich die, die noch nicht dran waren, vor mein Mikro. Noch am nächsten Morgen spricht uns der Kellner an, der am Einlass zum Film geholfen und dann mitgeguckt hat: „Der Film hat mich unheimlich bewegt. Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht.“
Was kann Kunst?
Kann Kunst also die Wirklichkeit verändern? – Im Kongo hat sie das schon. Zwei Minister sind 2015 unmittelbar nach – und wahrscheinlich wegen – ihren Aussagen vor dem Tribunal zurückgetreten.
Aber ist die Hoffnung, die der Film entfacht, stark, hält sie lange genug, um die Leute zum Handeln zu motivieren? Werden sie dran bleiben?
Der Film soll schnellstmöglich in Suaheli synchronisiert und und überall im Kongo gezeigt werden. Maître Sylvestre Bisimwa, Staatsanwalt beim Kongo Tribunal (in echt auch, u. a. beim Internationalen Strafgerichtshof Den Haag) hat sich von den Erlebnissen auf Film-Tour inspirieren lassen, wie er „Das Kongo Tribunal“ ins reelle Justizsystem übertragen könnte. Er feilt an der Idee, bald wird es konkret.
Milo Raus größte Hoffnung: Dass „Das Kongo Tribunal“ die Zuschauer im Westen – für die hat er den Film ja eigentlich gemacht – nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum Handeln anregt. „Dieser Mythos: ‚Wir können ja nichts dagegen tun.‘ – Das ist Schwachsinn! Wenn wir wollen, können wir die Welt sofort verändern: Die richtigen Produkte kaufen, die richtigen Leute wählen, die richtigen Aktionen machen, Geld schicken, selbst in den Kongo fahren. Wir müssen die tödliche Wirtschaftspolitik unserer Regierung jedenfalls nicht unterstützen.“, sagt er.
Aber
„Wer hat Ihrer Meinung nach von diesem Massaker profitiert?“ – Im Zeugenstand antwortet Amini Kabaaka wie aus der Pistole geschossen: „Die kongolesische Regierung.“ Ein Raunen geht durch die Menge, auf der Leinwand und jedes Mal auch im Kino-Saal. Den Gedanken, den alle gedacht haben, so offen auszusprechen, ist sehr mutig.
Amini Kabaaka ist verschwunden. Das Film-Team hat ihn vor der Kongo-Reise plötzlich nicht mehr erreicht. Allen Teilnehmern des Kongo Tribunals, mit denen ich gesprochen habe, geht es heute schlechter: Der Bäuerin, die kein Feld, kein Nutztier mehr hat und die mir nicht mal sagen kann, wie viele Enkel sie trotzdem ernähren muss – sie kann nicht zählen. Dem Schürfer, der früher aus einem selbst gegrabenen Loch Zinnerz geschöpft hat – nur so viel, wie er zum Überleben brauchte; der, wenn er das jetzt weiter tut, ein Verbrecher ist, weil die Regierung das gesamte Gebiet an eine Minen-Gesellschaft verschachert hat, die den Boden industriell plündern wird und damit zig tausende Einzelschürfer in den Ruin treibt. Den Angehörigen der massakrierten Frauen, Männer und Kinder von Mutarule, die immerhin einen Prozess hatten, der aber, so schätzt Staatsanwalt Bisimwa, die wahren Schuldigen außen vor gelassen hat.
Milo Rau hat hier einen Film gezeigt, der die Menschen politisiert, sie gehen ihre Regierung aufbringt. Aller Logik nach, müsste die Regierung ihn sofort verbieten. Doch nichts dergleichen ist geschehen. Seltsam eigentlich.
Die Erklärung ist zynisch: „Wenn der Film jemandem konkret Korruption nachweisen und gefährlich werden würde, wäre er längst verboten.“, sagt jemand, der nicht will, dass ich seinen Namen nenne. „Da es ums gesamte System geht, stört sie das nicht. Sie zücken sie die Schultern und machen genauso weiter wie vorher.“
Ich reise ab
Ich hoffe, dass es im Kongo 2018 Wahlen gibt, ohne Gewalt. Dass eine neue Regierung Gesetze beschließt, die die Plünderung durch den Westen ausbremsen. Dass die Idee eines oder mehrerer „Kongo Tribunale“ irgendwie weitergeführt, bzw. in die Wirklichkeit übersetzt wird. Ich wünsche mir, dass die Filmzuschauer im Westen verstehen, welches Unheil unser Rohstoffhunger erzeugt. Dass sie dann Wege finden, zu handeln. Wie Milo sagt: wählen, demonstrieren, spenden – im Bewusstsein leben, dass es Zufall ist, dass wir in diesen Wohlstand geboren sind, dass anderswo Leute dafür sterben.
Im Herzen der Finsternis zu recherchieren und ein Projekt zu begleiten, das die Menschen so bewegt, hat mich erfüllt und meiner Arbeit Sinn verliehen. Der Satz „Und bitte!“ ist in dieser gesamten Drehwoche nicht einmal gefallen.
Toll, dass meine Leser hier mich ermutigt haben. Danke! Ich schließe jetzt den Blog. – Bis zur nächsten Geschichte!
Eine große Kirche, mehr als 2.500 Menschen. Ein guter Teil von ihnen sind glühende Fans des Oppositionspolitikers, der seit 10 Minuten auf sie einredet. – Ich erwähnte es im letzten Post: Vital Kamerhe, der versucht, die Wucht des „Kongo Tribunal“-Films für seine Zwecke zu nutzen.
Eine Frau, die Moderatorin der Filmdebatte, schreitet langsam zum Platz auf dem Podium, wo der Politiker sitzt. Kerzengerade. Gemessenen Schrittes, in ihrem bodenlangen engen Kleid und imposanten Turban, die blau-silbern glitzern. Sie verschränkt ihre Arme vor der Brust, hebt wie in Zeitlupe den Blick. Als würde sie die Augen verdrehen. Sie schaut ihm in die Augen, nur kurz. Und der mächtige Mann beendet seinen Sermon. Heute schreibe ich über diese Frau.
Die Journalistin Solange Lusiku Nsimire, 44 Jahre alt, ist im Ostkongo eine Institution. Sie gibt die Zeitung „Le Souverain“ heraus, eines der wenigen unabhängigen Medien in der gesamten DR Kongo. Sie ist Journalistin und Feministin, Ikone und Hassobjekt.
Der Gouverneur von Süd-Kivu hat Solange mal eine „Hexe“ genannt. Er hat gedroht, sie bis aufs Blut zu bekämpfen – wörtlich „bis auf die Gedärme“ – sobald er nicht mehr an der Macht ist. Also jetzt. Vergangene Woche ist Marcellin Cishambo zurückgetreten. Er hatte seine Beamten 13 Monate lang nicht bezahlt, die Verwaltung lag lahm. Von den katastrophal schlechten Straßen habe ich schon geschrieben, auch vom fehlenden Trinkwasser. Der „Souvrain“ hat das kritisiert, die vielen Unterschriften unter der Rücktrittspetition abgedruckt.
„Le Souverain“ erscheint unregelmäßig, mal monatlich, mal alle zwei Monate – je nachdem, wie lange es dauert, ihn zu finanzieren und zu produzieren. Eine Ausgabe kostet 2.500 bis 3.000 Dollar. (Wegen der galoppierenden Inflation kommen hier Dollar aus dem Geldautomaten, die Francs Congolais nutzen die Leute nur für kleine Beträge). Für Leser ist der „Souverain“ kostenlos. Internationale NGOs zahlen. Nur so könne sie ihre Unabhängigkeit wahren, sagt Solange.
Die 3.000 Dollar reichen bloß für 1.000 Zeitungen. Es gibt hier keine Druckerei – weder in Nord-, noch in Süd-Kivu, einem Gebiet so groß wie Westdeutschland. Der „Souverain“ wird also in Kampala, Uganda gedruckt. Ein Mitarbeiter durchquert Ruanda, fährt nach Uganda, muss unter Umständen tagelang Schlange stehen bis er drucken kann. Auf der Rückreise muss er auch noch fürchten, dass er wegen Ruanda-kritischer Artikel Ärger bekommt „Wenn man uns mit einem Artikel über die Ausbeutung der Rohstoffe erwischt, verschwinden wir.“, sagt Solange.
Mit 1000 Exemplaren ist Auflage zwar klein. In Wirklichkeit lesen aber viel mehr Leute den „Souverain“. Die Zeitung geht von Hand zu Hand, aber mit System:
Mittwochmorgen, Redaktionskonferenz. Ein Raum mit vergilbten Wänden, in der Mitte ein paar Tische. Vor dem Fenster hupen Autos, Laster brettern durch die Schlaglöcher. Solange sitzt vor fünf Männern und einer Frau, alle in ihren 20ern. Der nächste Aufmacher soll von der hoffnungslosen Lage junger Witwen handeln. Arme Frauen heiraten oft jung, geben ihre Ausbildung dafür auf. Wenn ihre Männer dann sterben – und das passiert hier oft – ist ihre Lage oft verzweifelt: „Das sind die Frauen, die man dann auf der Straße sieht, mit Zweibeln auf dem Kopf, die sie für Centbeträge verkaufen. Sie leben von weniger als 10 Dollar im Monat. Aber man muss ja die Kinder ernähren, monatlich 5 bis 10 Dollar Schulgeld zahlen, und die Miete. Diese Armut macht sie hoffnungslos, krank, treibt sie manchmal in die Prostitution.“
Frauenthemen haben für Solange Lusiku immer Vorrang – die Gleichberechtigung voranzutreiben, ist erklärtes Ziel des „Souverain“. Feministin sei sie quasi von Geburt an. „Gleichberechtigung ist ein Thermometer für die Gesellschaft. Wo Frauen den Kopf gesenkt halten, die Gesichter verschlossen, von Sorgen verdüstert – da kannst du sicher sein, dass die Menschenrechte nicht respektiert werden. Und das ist bei uns der Fall.“
Zum Journalismus ist sie eher zufällig gekommen. Nach einer kaufmännischen Ausbildung arbeitet sie als Sekretärin. Eine erfahrene Journalistin entdeckt sie, als sie für deren Recherche ein paar Fakten zusammenschreibt. Inzwischen hat sie Preise gewonnen, u. a. 2014 den Courage in Journalism Award der International Women’s Media Foundation.
„Journalismus im Kongo ist das Vorrecht des Mannes. Man ist hier also nicht zufällig Journalistin. Dafür braucht es Charakter.“, sagt Solange. Während Männer von klein auf zu selbstbewusstem Auftreten erzogen werden, braucht ein Mädchen starken Willen und Ehrgeiz, um überhaupt die Schule zu schaffen:
In ihrem Haus in Bukavu füttert Solange Lusiku 24 Verwandte mit durch. Neben Mann und 7 Kindern auch Neffen, Nichten, Cousins und Cousinen, damit die ihren Eltern jetzt in den Ferien nicht auf der Tasche liegen. Sie zahlt auch deren Schulgebühr.
Die Tochter eines Lehrers wächst auf dem Dorf auf, als Mobutu gerade aufhört, Lehrer zu bezahlen. Sie bekommt mit, wie schwer es für Ihre Eltern ist. Ihr Vater unterrichtet trotzdem weiter. Wann immer er den Unterricht vorbereitet, muss Solange daneben sitzen und jegliche Texte, die da rumliegen, laut vorlesen und zusammenfassen. Dass die einzige Tochter neben den 4 Söhnen so gefördert wird, ist nicht typisch Kongo. Schon gar nicht in den 70er Jahren. „Mein Vater hat immer gesagt: Meine Kinder sind gleich.“ Vielleicht ist sie deshalb so selbstbewusst.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit der NGO „Reporter ohne Grenzen“ belegt die DR Kongo Platz 154 von 180. 3 Journalisten sind in den vergangenen 4 Jahren verschwunden. Die Morde sind unaufgeklärt und unbestraft geblieben. Die Behörden schüchtern Journalisten ein, behindern ihre Arbeit, schreibt die Organisation.
Solange Lusiku kann davon ein Liedchen singen: Bevor er zurückgetreten ist, hat der Gouverneur befohlen, Journalisten vom „Souverain“ jegliche Informationen zu verwehren. „Und wenn Solange selbst vorbeikommt, erniedrigt sie so richtig.“, soll er der Polizei gesagt haben. Sie zwingen, sich auszuziehen. Über sie verbreiten, dass sie mit allen NGO-Muzungus schläft, die ihr Blatt finanzieren. Das hat sie nicht mal überrascht. Aber es war auch schon schlimmer, sie wurde auch schon persönlich bedroht:
Hat sie Angst? – Klar. „Aber wenn alle schweigen, wer soll dann die Wahrheit sagen?“ Solange ist schon an der nächsten Story dran. Worum es geht, darf ich aber nicht verraten.
„Votez Kamerhe“ – Wahlkampf mit dem „Kongo Tribunal“
Die letzte Vorführung des Kongo Tribunals ist in Panzi, einem ärmlichen Vorort von Bukavu. Alternativ-Nobelpreisträger Denis Mukwege betreibt hier ein Krankenhaus, wo er inzwischen 50.000 vergewaltigte Frauen und Kinder „repariert“ hat. Klingt zynisch, ist aber so. So heißt auch der Dokumentarfilm von Thierry Michel und Colette Braeckman. Mukwege ist sehr angesehen. Dass er sich für den Film angekündigt hat, lockt Massen an. Am Ende ist es aber vor allem wegen der vielen Anhänger von Vital Kamerhe, dem oppositionellen Präsidentschaftskandidaten, dass das mobile Kino spontan vom Krankenhaus in eine riesige Kirche umzieht. Auf dem Dorf waren es noch Polizisten mit Helm, Schild und Schlagstock, die den Eingang gesichert haben (es wollen immer viel mehr Leute in die Vorführungen als es Plätze gibt, und zwar immer alle gleichzeitig). Heute stehen UN-Soldaten in schusssicheren Westen und Maschinengewehren vor der Kino-Kirche.
Seit der ersten Vorführung nutzt Vital Kamerhe die Filmtour für öffentlichkeitswirksame Auftritte. Seine Wahlkampftour macht genau dann dort Station, wo „Das Kongo Tribunal“ gezeigt wird. Dabei kommt er im Film nur sehr kurz vor. Vorher und nachher nutzt er die Zeit, um triumphal durch den Ort zu marschieren, gefolgt von jubelnden Anhängern.
– Wobei, Wahlkampf kann man das eigentlich nicht nennen. Denn es gibt ja immer noch keinen Wahltermin. Eigentlich hätte Joseph Kabilas zweite und letzte Amtszeit 2016 enden müssen. Laut Verfassung darf er nicht noch mal kandidieren. Doch er hat die Wahl einfach nicht organisiert. Man müsse zuerst den Zensus zählen, die Wahl vernünftig und sicher organisieren, bla. Die meisten hier – und in der Welt (s. Spiegel) – denken, dass das ein Vorwand ist, um an der Macht zu bleiben. Manche befürchten gar, dass er die Verfassung ändern möchte, so dass er noch ein drittes Mal kandidieren darf. Wenn man sieht, wie Kamerhe hier angehimmelt wird, scheint es allerdings unwahrscheinlich, dass Kabila langfristig durchkommt. Wo er auftritt, sind die Leute on fire. Während der Podiumsdiskussion nach dem Film stürmt plötzlich ein Mann nach vorn und berührt Kamerhes Knie. Die Zuschauer um mich rum reagieren so amüsiert-verstört wie ich. Der Mann wird sanft abgeführt, doch Kamerhe hält die Bodyguards mit gönnerhafter Geste ab: „Lasst ihn doch, er wollte mich nur berühren.“ Weird… .
Die Menschen sind arm, die Botschaft des Films ist stark, und Kamerhe kommt gern mal 10 Minuten zu spät, so dass der Film wegen Standing Ovations kurz in den Hintergrund gerät. Highjackt da einer den Film, weil die Botschaft bei seinen potenziellen Wählern gut ankommt? Kamerhe mag ein guter Typ sein, intelligenter und weniger korrupt als die aktuelle Regierung. Aber wirklich machtfern ist er auch nicht. Unter Kabila war er Parteivorsitzender, Wahlkampfleiter und Präsident der Nationalversammlung. Als Kabila 2009 ruandischen Truppen erlaubt, sich im Land niederzulassen, streiten sich die beiden Spitzenpolitiker. Kamerhe tritt zurück und gründet eine eigene Partei.
Milo Rau sagt, er nutze den Politiker umgekehrt genauso aus. Er lasse die Auftritte bewusst zu, um den Film bekannter zu machen. Aber muss man den Politiker dafür länger reden lassen als alle anderen auf dem Podium, obwohl das Publikum durchaus Lust hatte, über den Film zu reden?
Demokratische Republik Kongo
Darauf wollte ich eigentlich hinaus: Ich bin tief beeindruckt vom demokratischen Geist der Kongolesen. In der Kirche ist jeder der 2.500 Plätze besetzt (ich sagte ja: große Kirche). Irgendwann wird es am Eingang unruhig. Im Gegenlicht sehe ich plötzlich Menschen reinströmen. Viele Menschen. Kurz wird es unruhig im Saal. Wird die Kirche gestürmt? Massenpanik? Mein Herz klopft ein bisschen schneller, mein deutsches Gemüt guckt sich nach dem nächsten Notausgang um. Doch die Menschen stellen sich einfach an den Rand und gucken mucksmäuschenstill auf die Leinwand. Nur wenn sie applaudierend, schimpfend oder auch mal lachend auf den Film reagieren, wird es kurz laut. Zum Beispiel, als es vor dem Tribunal darum geht, dass die UNO auf ein Massaker nicht reagiert hat, obwohl es eine MONUSCO-Station in der Nähe gab. – Skurriler Moment, weil ja UN-Soldaten im Saal sind. Aber die bleiben stoisch.
Danach diskutiert der Saal, hauptsächlich in Suaheli. Die Atmosphäre ist emotional, aber sehr konzentriert. Die Moderatorin, Journalistin Solange Lukusi, um die es hier noch gehen wird, achtet penibel darauf, dass nach einem Jungen immer ein Alter zu Wort kommt, nach einer Frau wieder ein Mann. Dass mal einfache Menschen sprechen, dann wieder Intellektuelle.
Ganz ehrlich: Ich weiß nicht, ob sich eine 1,40 m große Greisin, offensichtlich eine sehr einfache Frau, in Deutschland ohne Weiteres trauen würde, vor 2.500 Menschen, vor Politikern und Honoratioren nach vorne zu treten und, das Mikro fest in der Hand, ihr Leid zu klagen.
Mir scheint, von ihrem Geist her, ist die Demokratische Republik Kongo wirklich demokratisch. „Wir sind gelähmt, haben uns zu sehr an die Misere gewöhnt. Daran, dass die Regierung korrupt ist, dass es keine Gesetze gibt, die uns schützen, und keine Gerechtigkeit. Der Film hat das Potenzial, uns wachzurütteln.“ – „Wer wird die UNO zur Verantwortung ziehen?“ – „Jemand muss organisieren, dass der Film im Parlament gezeigt wird!“ Die Forderungen sind präzise, konstruktiv. Und das bei einem Film, der dicht und komplex erzählt, den man echt konzentriert gucken muss. Und in einem Land, in dem jemand, der kritisiert, einfach verschwinden kann. Wo es danach noch nicht mal eine Untersuchung gibt.
Schnell noch ein paar Interviews (während dem letzten macht der Pfarrer schon das Licht aus), dann treten wir staubig, bewegt und nachdenklich in die Nacht.
Gestern keinen Empfang gehabt, daher kein Blog. Sie haben „Das Kongo Tribunal“ in Mushinga gezeigt, einem Dorf auf dem Hügelkamm.
Wenn die Rohstoffabbaukonzerne irgendwo graben wollen, wo Leute wohnen, dann werden die einfach umgesiedelt. Dorfweise. Es gibt kein Gesetz, das die Kongolesen davor schützt, dafür aber rechtlich bindende Konzessionen an die Firmen. So ist es auch Laheri Kafabul, Bäuerin, und Zihalirwa Chakirwa, Pfarrer, ergangen. Zwei Zeugen vor dem Kongo Tribunal, die mit anderen Dorfbewohnern per Bus gekommen sind, um den Film zu sehen. Ihr erstes Mal im Kino.
Es ist, als öffne der Film ein Ventil bei den Zuschauern. Die Debatte danach – leidenschaftlich, verzweifelt: Ein Raum zu reden, zu klagen und gehört zu werden, hat bisher gefehlt, das spürt man.
Die rote Staubpiste ins Dorf war gut. Und das ist eine Nachricht. In der DR Kongo haben die Straßen meist tiefe Schlaglöcher. Der Kongo – wie gesagt: so groß wie Westeuropa – hat weniger als 1000 km asphaltierte Straßen, nicht mal zwischen den größten Städten des Landes, Kinshasa, Lubumbashi, Kisangani. Schienen gibt es auch nicht. Mit dem Boot den Kongo-Fluss hoch dauert es ewig. Wer es sich leisten kann, nimmt tatsächlich das Flugzeug. Oder rechnet, wie David van Reybrouck schreibt, für eine Strecke, die zur Kolonialzeit eine Stunde gedauert hätte, einen Tag. Wow.
Dass nun ausgerechnet diese Straße ganz gut ist, ist kein Zufall, erzählt mir Milo Rau. Die Piste wurde für das multinationale kanadische Unternehmen Banro gebaut, das hier die größte Goldmine der Welt betreibt. 2016 haben sie in ihren zwei kongolesischen Minen gut 56 Tonnen Gold abgebaut (knapp 200.000 Unzen). Ich habe den Wert schnell mal mit dem Jahresdurchschnittswert von Gold überschlagen: Macht 247.323.302 Dollar und 46 Cent. Geht alles in den Westen. Die anwohnenden Kongolesen durften früher als Schürfer arbeiten. Mittlerweile wird alles industriell gemacht, die Leute müssen sehen, wo sie bleiben. Aber die gute Straße, die haben sie immerhin Banro zu verdanken.
Wir schlängeln uns mit großen Geländewagen die grünen Hügel hoch. Die Landschaft ist unfassbar schön. Die Erde hier ist wahnsinnig fruchtbar, theoretisch könnten die Bauern dreimal im Jahr ernten. Wegen des Krieges geben die meisten ihre Felder auf. Zu oft wird alles von Milizen zerstört. Also importiert der Kongo Reis, u. a. aus Kanada. Ausgerechnet. Auch davon handelt „Das Kongo Tribunal“.
In einer kurzen Drehpause komme ich mit den Dorffrauen ins Gespräch. Während ich nach kürzester Zeit aussehe, als hätte ich mich im Staub gewälzt, sind sie wie aus dem Ei gepellt. Als ich mein Handy zücke, um Fotos von meinem Sohn zu zeigen, bin ich von 20-30 Leuten umzingelt. – Habe ich mein Kind denn nicht dabei? Wie kann das sein? Nicht dass sie alle Hausfrauen wären. Im Kongo ist das Modell der alleinverdienenden Frau verbreitet: Mit Säugling auf dem Rücken auf der Baustelle malochen, dann heim, Geld abliefern, und Monsieur geht dann unmittelbar danach davon Bier trinken. Auch patriarchal, aber anders.
Dass normale Menschen in dieser Gegend um Wasser betteln, hat die Kongo-Kennerin Colette Braeckman noch nicht erlebt. Das ist unter ihrer Würde, entspricht gar nicht ihrer Art. So schlecht geht es ihnen also. Und das bestätigen auch die Zeugen des Tribunals. Sie fühlen sich verlassen. Von ihrer Regierung, von ihrem Präsidenten, von der Welt.
Dass viele Leute kommen würden, war klar. Schließlich wurde die erste Vorführung des „Kongo Tribunals“ auf allen Kanälen angekündigt: im Radio, im Fernsehen, als Titel der einzigen unabhängigen Zeitung der Gegend „Le Souverain“. Aber als es am Eingang kurz tumultartig wurde, war ich überrascht.
Der Gegenkandidat von Präsident Kabila, Vital Kamerhe, ist nicht nur einer der Protagonisten des Films. Er war auch hinterher auf dem Diskussions-Podium angekündigt. Und er hat viele Anhänger.
Um 4 Uhr nachmittags also Trubel am Eingang des Jesuitegymnasiums Alfajiri von Bukavu, wo das Tribunal 2015 statt gefunden hat, und wo jetzt auch der Film gezeigt werden soll. Niemand will sich abwimmeln lassen.
Als dann alle sitzen und der Polizist am Eingang mal eine Sekunde nicht aufpasst, schlüpfen noch mal 100 Menschen hinein, hocken sich auf den Boden, pressen sich in die Ecken. Im großen Auditorium sitzen die Wichtig-Wichtig-Menschen – Protagonisten, Beteiligte, Mitarbeiter von NGOs, Botschaften und Politiker. Im Foyer das einfache Volk. Teenager-Jungs mit staubigen Waden, ein einarmiger Greis mit Lendenschurz und Speer, viele junge Menschen, vor allem Männer. Und dann: Große Augen, Konzentration, Stille, wenn es ernst wird, Proteste, Gelächter oder Applaus an den Höhepunkten des Films.
Als dann der Abspann läuft, hört man nur aus dem großen Saal klatschen. Die Leute im Foyer stehen einfach auf und gehen. Um ihre Meinung zu hören, muss man sie allerdings nur mal kurz ansprechen. Ich bin mit meiner Kamera sofort umzingelt, die Leute drängen mich geradezu, die zu interviewen.